Die Figuren: Frau Wallies, Herr Zwiebler und die acht Engel
 

Frau Wallies hat ein merkwürdiges Hobby: Sie beobachtet mit Ferngläsern das Berliner Stadtgebiet. Genauer gesagt beobachtet sie die Dächer, und um ganz genau zu sein: Sie hält Ausschau nach Engeln. Und darf man ihr glauben schenken, so wird sie ab und zu fündig. Berlin ist eine Stadt der Engel, sagt sie nicht ohne Stolz.
Heute, am 09. November 2009, staunt sie nicht schlecht. Denn heute begegnet sie acht Engeln gleichzeitig. Sie alle haben sich auf den Dächern Berlins zwischen Brandenburger Tor und Potsdamer Platz niedergelassen.

Frau Wallies ist sich sicher: Das Auftauchen der Engel zum Jahrestag des Mauerfalls ist kein Zufall. Sie seien gekommen um zu sehen, was aus ihrer Stadt geworden ist. Denn die Engel seien gewiss einmal Menschen gewesen, die unter der Mauer gelitten haben.  Frau Wallies notiert ihre Beobachtungen in einem kleinen Notizbuch und sie gibt den Geflügelten Namen: Schleierschwinge Trauerauge oder Winkfang.

Trauerauge ist ein Engel mit Blumen in der Hand. Er taucht oft in der Nähe von Kirchen auf, während Hochzeiten. Besonderheit: Seine Blumen hängen an einer Paketschnur. Erinnerungen werden wach: 1961, die Häuser an der Grenze sind zugemauert.  Die Brauteltern stehen an den Fenstern und lassen an einer Schnur  für ein Hochzeitspaar einen Strauß Blumen hinunter. Das gemeinsame Fest ist unmöglich geworden. Die Braut weint an ihrem schönsten Tag.  Frau Wallies nennt den Engel Trauerauge.

Schräg gegenüber sieht sie einen Engel, schön wie am Hochzeitstag. Das könnte die Braut sein. Mit ihrem Fernglas sieht Frau Wallies in das Gesicht des Engels. Die Trauer ist verschwunden – die Braut blickt neugierig  und staunend auf die Straßen der Stadt. Blütenblättern wirft sie gen Himmel. Die undurchlässige Mauer ist weg. Die Menschen können sich nun wieder begegnen. Frau Wallies tauft den Braut-Engel Schleierschwinge.

Einem anderen Engel ist sie schon häufiger begegnet. Er hat immer einen Koffer dabei. Einmal hat sie ihn sogar drei Tage verfolgt. Er ist bis nach Röntgental raus, hat sich dort auf das ehemalige „Zentralen Aufnahmeheims für Rückkehrer“ gesetzt.
Ihre Vermutung: Er gehörte zu jenen, die nach ihrer Flucht wieder in die DDR zurückgekehrt sind. Meist wegen ihren Familien. Die Rückkehrer  wurden hierher gebracht: Festgehalten, verhört… Misstrauen und Härte. Verzweiflung bei den Heimkehrern. Du kehrst niemals mehr ganz Heim. Der verlorene Heimkehrer.

Winkfang: Ein winkender Engel. Mit einem Taschentuch trocknet er sich die Tränen. Frau Wallies winkt zurück und erinnert sich an Frau Kraus, die ihr erzählte, sie hätte einmal ihren Sohn, der im Westen lebte, bis an die Grenze begleitet um ihn dort zu verabschieden. Die Grenzer hatten nicht aufgepasst und plötzlich stand sie im Westen. Ihr Sohn flüsterte ihr zu: Du bist frei. Sie muss ihn erstaunt angesehen haben, doch dann verabschiedete sie sich und ging winkend wieder zurück in den Osten – wegen Herrn Kraus,  ihrem Mann.

Gleich daneben erkennt Frau Wallies den Sucherversucher.  Ein Mann im Westen liebte eine Frau im Osten.  X Versuche habe er gestartet, um sie aus der DDR herauszubringen. Ein Fluchtauto hatte kurz vor der Grenze versagt, ein Tunnel war wenige Tage vor Fertigstellung verraten worden. Immer Neues hatte er sich ausgedacht. Nichts hatte geklappt – eine von so vielen Liebesgeschichten…  Der Sucherversucher ist ein stattlicher Engel mit großen Flügeln und einer Landkarte.

Etwas versteckt, auf einem Dachgarten entdeckt Frau Wallies Baumbart. Ein  Engel mit Bart und einem Bäumchen im Topf.  In einer Zeitung hat sie von einer Rentnergruppe gelesen, die 1962 einen Fluchttunnel gegraben hat. Einer schob im Garten Wache und verpflanzte als Tarnung immer wieder ein Bäumchen. Der Tunnel soll so hoch gewesen sein, dass alle aufrecht hindurch gehen konnten.  Die Frauen voran. Aufrecht in den Westen. Es scheint, als ob Baumbart auch heute noch der Lage nicht ganz traut. Mit seinem Fernrohr beobachtet er die Menschen auf der Erde, auch Frau Wallies, die ihm bestimmt schon aufgefallen ist.

Ein weiterer Engel schaut durch ein Fernglas zu den Menschen. Beschreibung: schwarze Kleidung, großer Seitenschneider. Wenn er sprechen könnte, würde er bestimmt von seiner Ausreise erzählen und wie er anschließend über 30 Menschen zur Flucht in den Westen verholfen hat. Beim Abbau von Selbstschussanlagen ist er von der Staatssicherheit aufgespürt und erschossen worden. Name? Einen Namen hat Frau Wallies noch nicht.

Der letzte Engel, der ihr an diesem Tag begegnet, lässt einen Brief vom Dach fliegen. Frau Wallies hat ihn mitgenommen. Es ist ein Brief, von einer Frau geschrieben,  über eine ganz besondere Ehe: Er lebte im Westen – sie im Osten.  Briefe, Kurzbesuche und ab und zu ein gemeinsamer Urlaub. Jahrzehnte lang. Frau Wallies liebt Liebesgeschichten. Sie hat sich vorgenommen, den Mann zu suchen und ihm den Brief zu übergeben. Briefesegler. Ein schöner Name für einen Engel.

Gleich daneben erkennt Frau Wallies den Sucherversucher.  Ein Mann im Westen liebte eine Frau im Osten.  X Versuche habe er gestartet, um sie aus der DDR herauszubringen. Ein Fluchtauto hatte kurz vor der Grenze versagt, ein Tunnel war wenige Tage vor Fertigstellung verraten worden. Immer Neues hatte er sich ausgedacht. Nichts hatte geklappt – eine von so vielen Liebesgeschichten…  Der Sucherversucher ist ein stattlicher Engel mit großen Flügeln und einer Landkarte.